Oalims Gesicht
[HGt.02_072,08] Und sonach vernehmet denn alle, was ich überwunderbar in mir geschaut, empfunden und gar treu und wohl vernommen habe!

[HGt.02_072,09] Es klang mir anfangs sehr sonderbar, darum ich da hätte in mein Herz schauen sollen, und es war mir doch allerreinst unmöglich, meinen Kopf, in dem doch die Augen stecken, in meinen Leib selbst irgendwo zu stecken und im selben dann das Herz zu beschauen!
[HGt.02_072,10] Allein, als ich also nachdachte über diese Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die Augen in den Leib zu bringen, da verlor ich aber denn auch auf einmal plötzlich das Licht meiner Augen; doch fast im selben Augenblicke ward denn auch plötzlich alles helle in mir, darum ich mich da innerlich sah also, wie ich mich sonst äußerlich sehe beim Lichte der Sonne.
[HGt.02_072,11] Ich konnte aber da wieder nicht begreifen, wie solches möglich sein könnte, da ich solches ehedem noch nie erfahren hatte; aber da ich also dachte, da fing auch alsbald mein Herz an, vollkommen durchsichtig zu werden, und ich sah gar bald drei Herzen also ineinanderstecken, wie da stecken hinter oder vielmehr innerhalb der stachelicht rauhen Kastanienfrucht drei Kerne, und zwar zuerst der braune Schalekern, in diesem Schalekerne das eigentliche Fleisch oder der Fleischkern, und in diesem Fleischkerne erst hernach der kleine Keimkern, in welchem erst das Leben eingeschlossen ist, und in diesem die unendliche Mannigfaltigkeit und endlose Vielheit seiner selbst.

[HGt.02_072,12] Das äußere Herz aber zersprang bald und fiel alsbald abgelöst hinab in eine endlose Tiefe, wo es vollends vernichtet wurde; und das war das äußere Fleischherz des Leibes.
[HGt.02_072,13] Das inwendigere, substantielle Herz aber blieb und erweiterte sich beständig, darum es das innerste, überstark leuchtende Keimherz also nötigte, dieweil dieses selbst fort und fort wuchs und also auch stets größer wurde, wie da der Keim eines in die Erde gelegten Samens sich stets erweitert und zwar so lange fort, bis aus ihm dasteht ein mächtiger Baum.

[HGt.02_072,14] Also auch war es mit diesem meinem innersten Keimherzen der Fall. Anfangs sah es nur aus, als wäre es ein Herz; als es aber dann stets größer und größer wurde, da bekam es auch immer mehr und mehr eine menschliche Gestaltung, und nun gar bald erkannte ich mich selbst in diesem neuen Menschen, der da geworden ist aus diesem meinem ehemals inwendigsten lichten Keimherzen.
[HGt.02_072,15] Beim Anblicke dieses Menschen aber dachte ich mir: ,Hat etwa dieser neue Herzmensch in mir denn auch noch ein Herz in sich?‘

[HGt.02_072,16] Und siehe da, alsbald wurde ich in diesem neuen Menschen gewahr, daß auch er noch ein Herz in sich barg!
[HGt.02_072,17] Dieses Herz aber sah aus wie eine Sonne, und deren Licht war stärker denn das Licht der Tagessonne tausendfach genommen.
[HGt.02_072,18] Als ich aber dieses Sonnenherz stets mehr und mehr betrachtete, da entdeckte ich auf einmal in der Mitte dieses Sonnenherzens ein kleines, Dir, o heiliger Vater, vollkommen ähnliches, lebendiges Abbild, – wußte aber nicht, wie solches möglich.

[HGt.02_072,19] Da ich aber darüber nachdachte, da ergriff mich auf einmal eine unaussprechliche Wonne, und Dein lebendiges Bild öffnete alsbald den Mund und redete zu mir aus dem Sonnenherzen des neuen Menschen in mir folgendes:
[HGt.02_072,20] ,Richte empor nun deine Augen, und du wirst bald gewahr werden, woher und wie Ich in dir nun lebendig wohne!‘
[HGt.02_072,21] Und ich richtete alsbald meine Augen aufwärts und erschaute sogleich in einer endlosen Tiefe der Tiefen der Unendlichkeit ebenfalls eine unermeßlich große Sonne und in der Mitte dieser Sonne aber dann bald Dich Selbst, o heiliger Vater!
[HGt.02_072,22] Von Dir aus aber gingen endlos viele überlichte Strahlen, und einer dieser Strahlen fiel in das Sonnenherz im neuen Menschen in mir und bildete also Dich Selbst lebendig in mir.

[HGt.02_072,23] Bald darauf aber streckte der neue Keimherzmensch seinen Arm aus und wollte mich äußeren Menschen gefangennehmen.
[HGt.02_072,24] Ich aber erschrak darüber, und dieser Schreck warf mich wieder in mein altes Haus zurück. [HGt.02_072,25] Das früher entwichene Fleischherz kam wieder aus der Tiefe gestiegen und umlagerte sogleich wieder die zwei inneren Herzen; als solches geschehen, ward mir wieder die Außenwelt sichtbar und alles Innere verschwand.
[HGt.02_072,26] Und somit ist das auch alles, was ich in mir gesehen, empfunden und gehört habe.