Goethe und Swedenborg

 

Wenn schon die ganze Welt die 200. Wiederkehr von Goethe’s Geburtstag feiert, so hat die neue Kirche, die sich auf die Neudarlegung der christlichen Wahrheit für den denkenden Menschen gründet, besonderen Anlass, seiner zu gedenken, hatten doch die Schriften Swedenborgs wohl unter Allem, was Goethe gelesen, den größten Anteil an der Bildung seiner grundlegenden Lebensanschauung. Gerade darin ist uns Goethe ungemein wertvoll, dass er viele Wahrheiten, die durch Swedenborg gegeben wurden, hinausträgt, ihnen Bahn bricht in einer Welt, welche sonst diesen Wahrheiten abgeneigt wäre. Goethe gilt allgemein so sehr als Autorität, dass eine Ansichtsäußerung von ihm in einem großen Teil der Erde ohne weiteres Kurswert hat, so dass viele unselbstständige Menschen, die es nicht wagen würden, eine Wahrheit von dem noch nicht allgemein anerkannten Swedenborg aufzunehmen, sie unbesehen gelten lassen, sobald Goethe dieselbe Wahrheit ausspricht. Freilich kann an der Zustimmung solcher Menschen nicht viel liegen, aber bei manchen Tieferdenkenden kann so Goethe doch ein Wegbereiter für die tieferen Wahrheiten des Wortes sein; und wenn man, wie Emerson bezeugt, „den Wahrheiten, welche aus Swedenborgs System in allgemeinen Umlauf gelangen, heute jeden Tag begegnet, wie sie die Anschauungen und Glaubensbekenntnisse aller Kirchen beeinflussen, sowie das Denken von Menschen, die zu keiner Kirche gehören,“ dann hat zweifellos Goethe viel dazu beigetragen.

 

Es liegt uns ob, den Einfluß Swedenborgs auf Goethe nachzuweisen, umsomehr, als diese Seite in seinem Werden kaum von Anderen behandelt oder auch nur erwähnt wird. Und das aus triftigen Gründen: Es gehört eine gute Kenntnis Swedenborgs dazu, um hierüber zu sprechen zu können. Und diese fehlt ja so ziemlich Allen, die über Goethe schreiben, ganz. Darum können sie auch in solchen Worten des Dichters Swedenborgs Einfluß keineswegs erkennen, wo er für Kenner unzweideutig zu Tage tritt. Gewiss sind alle Literaten, die sich mit Goethes religiöser Entwicklung befassen, bei ihm wieder und wieder auf Swedenborgs Namen gestoßen; wenn sie aber daraufhin sich auf seine Lehren in Kenntnis setzen wollten und seine vielen umfangreichen Werke zu Gesichte bekamen, da wichen sie voller Schauder vor der großen Aufgabe zurück und unterließen meistens schon auch die bloße Nennung seines Namens oder hielten sich zu ihrer Aufklärung höchstens an Kant’s leichtfertige, unwissenschaftliche Spottschrift „Träume eines Geistersehers“, wo sie dann nur gründlich irre geleitet werden; wenn sie nicht bloß ein Nachschlagewerk zu Raten ziehen, wo bis anhin nur Unwissende den betreffenden Absatz geschrieben haben. So ist Swedenborg für die meisten Derer, die über Swedenborg schreiben, ein Unbekannter.

 

So wird denn, wenn Goethe’s religiöse Entwicklung behandelt wird, gewöhnlich fast lediglich auf Spinoza, Herder und Lavater hingewiesen, wobei den betreffenden Literaten unbekannt ist, dass auch die beiden Letztgenannten von Swedenborg beeinflusst waren. Zudem nennt ja Goethe die Quelle seiner Gedanken, auch wenn sie ihm bewusst war, nicht, war es ihm doch sogar zum Grundsatz geworden: dass eine Wahrheit verkündet wird ist wesentlich; durch wen, ist belanglos. So mögen wir den Versuch einer Rechtfertigung seines Schweigens finden in seinen Worten an Eckermann: „Es ist im Grunde alles Torheit, ob Einer etwas aus sich habe oder ob er es von Anderen habe, ob einer durch sich wirke oder ob er durch andere wirke; die Hauptsache ist, dass man ein großes Wollen habe und Geschick und Beharrlichkeit besitze, es auszuführen; alles übrige ist gleichgültig.“ Die Swedenborg’sche Herkunft manches Gedankens bleibt darum dem Nichtkenner verborgen, während sie für den Kenner völlig gewiss ist.

Freilich hat Goethe in den beinahe 83 Jahren seines Erdenlebens im Laufe der Zeiten gar verschiedene Ansichten Ausdruck verliehen, so dass anscheinend mit Fug und Recht manche Richtungen Anspruch auf seine Zugehörigkeit erheben können, wennschon er nirgends ganz hingehört. Swedenborgs starken Einfluß auf sein religiöses Denken können wir aber sowohl in seinen jugendlichen wie auch in seinen allerreifsten Jahren des höheren Alters feststellen.

Goethe hat schon im Alter von 20 Jahren die Schriften Swedenborgs zu lesen begonnen. In einer Julinacht des Jahres 1768 wachte der in Leipzig studierende 19-jährige Goethe an einem heftigen Blutsturz auf. Ein Zimmernachbar, ein Theologiestudent holte den Arzt und pflegte ihn in der Folgezeit. Goethe, der sich bis dahin frohem Studentenleben hingegeben hatte, war nun religiösen Fragen sehr zugänglich und lies sich von dem frommen Theologiestudenten und dessen Freund in ein pietistisches Fahrwasser ziehen, dem auch seine Familie in Frankfurt, zu welcher er bald zurückkehrte, folgte. Es ist aber klar, dass diese Richtung, die das Aufgeben des Dichterberufes zugunsten der Bekehrung von ihm forderte, ihn nicht bleibend fesseln konnte, sondern ihn zuletzt vielmehr dem kirchlichen Leben der Religion entfremden musste.

 

In jene Zeit langsamer Genesung stand in seinem Kreise das Interesse für

die geistige Welt

sehr im Vordergrunde; die um ihrer Gemütsreinheit und schönen Gaben willen sehr beliebte Frl. von Klettenberg schrieb in ihren Betrachtungen, die als „Bekenntnisse einer schönen Seele“ vom Kreise gerne gelesen wurden, ganze Abschnitte, ja beinahe ganze Kapitel aus dem Werke „Himmel und Hölle“ ab, und so ward Swedenborg dort viel gelesen. Stand in jenem Kreise das, was Swedenborg über die geistige Welt sagt, im Vordergrund des Interesses, so hat Goethe doch auch aus dem übrigen Inhalt der Schriften Swedenborgs vieles aufgenommen, wenn es auch auf jenem am offensichtlichsten ist. In den Frankfurter Anzeigen (37256) von 1773 spricht er von Swedenborg als dem

„gelehrt denkenden Theologen und Weltkündiger“

und kurz darauf in (Nr. 37261 vom 3. November 1773) bespricht er Lavaters „Aussicht in die Ewigkeit“ und rät ihm, sich bei der Fortsetzung an Swedenborg

„den gewürdigten Seher unserer Zeiten“

zu halten. Am 14 November 1781 schreibt er Lavater, dass das Bestehen einer Geisterwelt im Sinne Swedenborgs zu einem Teil seiner Weltanschauung geworden ist:

„Ich bin geneigter als jemand, noch an eine Welt außer der sichtbaren zu glauben, und ich habe Dichtungs- und Lebenskraft genug, sogar mein eigenes beschränktes Selbst zu einem Swedenborgschen Geistesuniversum erweitert zu fühlen“

 

In dem ersten Jahre seines Bekanntwerdens mit Swedenborgs Werken schrieb er den ersten Teil des „Faust“, wo gleich der große Monolog zahlreiche Gedanken aus Swedenborg enthält. Der Einfluß Swedenborgs auf Goethe ist von den Erklärern des „Faust“ lange beinahe völlig übersehen worden, bis Max Morris in Charlottenburg in der Vierteljahrszeitschrift für Literaturgeschichte „Euphorion“ im Jahrgang 1899 (Seite 491-510) in gründlicher Weise darüber schrieb und Swedenborgs Einfluß durch viele Zitate aus den „Himmlischen Geheimnissen“ im lateinischen Original belegt, wenn er schon in spöttisch überheblicher Weise von Swedenborg spricht. (Pfr. Emanuel Goerwitz hat diese Arbeit einer Besprechung unterzogen, welche in unseren Monatsblättern 1903 (Januar-Mai) veröffentlicht ist.)

 

 

Noch Prof. Eduard Engel stellt es in seinem Goethe-Werk so hin, als sei der einzige Gedanke, den Goethe aus Swedenborg entnommen habe, der, dass zu Zeiten Geister und Engel durch die Augen eines Menschen in die irdische Welt blicken können (H. G. 1880). Goethe bezog das hauptsächlich auf solche, die auf Erden als kleine Kinder starben und dien nun durch Menschen Landschaften der irdischen Welt sehen. Dieser Gedanke scheint allerdings Goethe besonders angezogen zu haben, schreibt er doch im Jahre 1781 an seine Mutter:

„Wenn man wie die Geister Swedenborgs durch die Augen anderer zu sehen wünscht, täte man besser, die Augen von Kindern zu wählen.“

Aber das ist keineswegs der einzige Gedanke aus Swedenborg, vielmehr ist, wie Morris nachweist, der „Faust“ v o l l  davon.

Denken wir nur daran, wie die Auferstehung des Faust in der geistigen Welt geschildert wird, wo ganz nach Swedenborgs Schilderung Engelssphären ihn empfangen und schützen, so dass Mefisto weichen muß. Es ist nun schon so aufgefasst worden, wie wenn Goethe das nur aus dramatischen Gründen so verwendet hätte, ohne sich diese Dinge in seiner persönlichen Anschauung zu eigen zu machen. Das mag wohl bei einigen Einzelheiten der Anordnung im „Faust“ zutreffen, so z. B. bei den katholischen Elementen, die er ebenfalls in die Auferstehungsszene mengt, und es ist nicht zu leugnen, dass dadurch auch das, was er von Swedenborg übernimmt, zum Teil entwertet wird, weil man darauf hinweisen kann, dass seine Benützung zur dramatischen Gestaltung des „Faust“ nicht notwendigerweise seinen Glauben an den geborgten Gedanken bedeute. Ein Dichter verfehlt sich gegen sein höchste Aufgabe, wenn er in die Verkündigung seiner Gedanken auch solches mengt, , was seinen eigentlichen Anschauungen widerspricht, bloß weil es dramatisch wirksam ist.

 

Bei alledem kann aber kein Zweifel bestehen, dass Goethe persönlich an ein Fortleben nach dem Tode des Leibes geglaubt hat, und zwar entgegen der damaligen Zeit im Sinne Swedenborgs. Dem hat er in Briefen und Gesprächen oft und unzweideutig Ausdruck verliehen.

So sagt er:

„Der Mensch, wie sehr ihn auch die Erde anzieht mit ihren tausend und abertausend Erscheinungen, hebt doch den Blick forschend und sehnend zum Himmel auf, der sich in unermessenen Räumen über ihm wölbt, weil er es tief und klar in sich fühlt, dass er ein Bürger jenes geistigen Reiches sei, woran wir den Glauben nicht abzulehnen noch aufzugeben vermögen.“

 

Und in seinen Gesprächen mit Eckermann finden wir den gleichen Glauben:

„Der Mensch soll an Unsterblichkeit glauben, er hat dazu ein Recht; es ist seiner Natur gemäß, und er darf auf religiöse Zusagen bauen.“

Ferner:

„Mich lässt der Gedanke an den Tod in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, dass unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit; es ist der Sonne ähnlich, die bloß unseren irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.“

Und:

„Glaubt ihr, ein Sarg könne mir imponieren? Kein tüchtiger Mensch lässt seiner Brust den Glauben an eine Unsterblichkeit rauben“

Ja, er kann sich auch kein richtiges irdisches Leben denken ohne den Glauben an die Unsterblichkeit:

„Alle sind auch für dieses Leben tot, die kein anderes hoffen“

 

Ja, auch was Swedenborg über die

Einwohner der anderen Planeten

Schreibt, ist in ihm haften geblieben,- und hiefür kommt eine andere Quelle als Swedenborg gar nicht in Betracht, und was Goethe hier ausspricht, ist ganz aus dem von Swedenborg Geschriebenen herausgewachsen:

„Ich habe in einer unserer früheren Unterhaltungen den Menschen das erste Gespräch genannt, das die Natur mit Gott hält. Ich Zweifle gar nicht, dass dieses Gespräch auf anderen Planeten viel höher, tiefer und verständiger gehalten werden kann.“

 

Swedenborg lehrte ganz entgegen der damals herrschenden Anschauung, daß der Himmel nicht nur im ewigen Beten und Lobpreisen bestehen könne, sondern

ein Reich der Nutzwirkungen

sei; das hat sich auch Goethe völlig zu eigen gemacht:

„Ich wüsste nichts mit der ewigen Seligkeit anzufangen, wenn sie mir nicht neue Aufgaben und Schwierigkeiten zu besiegen böte“

 

Daß er den Himmel, wie Swedenborg ihn erklärt, in Gedanken vor sich hatte, zeigt sein Wort:

„Vollkommenheit ist die Norm des H i m m e l s; Vollkommenes  w o l l e n  die Norm des Menschen.“

 

Swedenborg lehrt aber nicht nur, dass der Himmel ein Reich nützlichen Schaffens ist, sondern, dass der Mensch überhaupt und darum auch hienieden dazu da ist, für die Allgemeinheit Nützliches zu wirken, -- eine Grundlehre, welche aber in die Lehre der Kirchen nicht hineinpasste. Umso lebendiger ward sie von Goethe aufgenommen, und er bringt diese Erkenntnis im „Faust“ zum Ausdruck: Eingedenk seiner Eindrücke  von der Gebirgswelt auf seinen Schweizerreisen lässt er Faust dort oben stehen und in Gedanken „in weiter Ferne das unfruchtbare, landverschlingende Meer schauen und beschließen, den Kampf gegen das drohende Element aufzunehmen, es zurückzudrängen und ihm fruchtbares Land abzugewinnen“ und so Hunderttausenden von Menschen Arbeit zu verschaffen und Neuland für künftige Saaten von Korn für’s tägliche Brot. Indem er so die Befriedigung des Lebens nicht mehr im bloßen Wissen und Erkennen sucht, auch nicht mehr in sinnlicher Liebe oder in klassischer Schönheit, sondern in der

Nutzwirkung

erreicht er das Glück des Menschendaseins im Sinne der Neuen Kirche.

 

Kaplan F., ein katholischer Vortragsredner hielt kürzlich in der Schweiz Vorträge über Goethe’s „Faust“ und wusste dabei dessen Verlangen dem Meere fruchtbares Land abzugewinnen, nicht anders zu deuten, als eine in die Irre gehende Machtgier. Dem katholischen Lebensideal klösterlicher Einsiedelei fehlt eben jedes Verständnis für das wahre christliche Ideal der Nutzwirkung. Und doch muß die Religion der Liebe hiezu führen. Und Gott hat auch die Anlage dazu in uns gelegt: Gerade in dem Drange, zu  n ü t z e n, kommt in uns Menschen, die wir der Anlage nach zu Ebenbildern Gottes geschaffen sind, zu Aufnahme- Organen Seiner Liebe und Weisheit, auch jene dritte Wesensseite Gottes zur Geltung: der heilige Geist Gottes; das aus der Liebe und Weisheit hervordrängende Schaffen und Gestalten. Das ist im Bereich der Christenheit aber auch erst durch Swedenborg klar hervorgehoben und dargetan worden.

 

Auch daß die Verschiedenheit der Menschen verschiedene Himmel und Gesellschaften erheischt, wie Swedenborg es so deutlich darlegt, leuchtete ihm ein. Zu Falk äußerte er sich in einem Gespräch so:

„...Und da stehen wir wieder an der Rangordnung der Seelen, die wir gezwungen sind anzunehmen, sobald wir uns die Erscheinungen der Natur nur einigermaßen erklären wollen. Swedenborg hat dies auf seine Weise versucht und bedient sich zur Darstellung seiner Ideen dabei eines Bildes, das nicht glücklicher gewählt sein kann. Er vergleicht nämlich den Aufenthalt, worin sich die Seelen befinden, mit einem in drei Hauptgemächer eingeteilten Raume, in dessen Mitte ein großer befindlich ist. Nun wollen wir annehmen, dass aus diesen verschiedenen Gemächern sich auch verschiedene Kreaturen, z. B. Fische, Vögel, Hunde, Katzen in den Saal begeben; eine freilich sehr gemengte Gesellschaft! Was wird davon die unmittelbare Folge sein? Das Vergnügen beisammen zu sein, wird bald genug aufhören; aus den einander so heftig entgegengesetzten Neigungen wird sich ein ebenso heftiger Krieg entspinnen; am Ende wird sich das Gleiche zum Gleichen, die Fische zu den Fischen, die Vögel zu den Vögeln, die Hunde zu den Hunden, die Katze zu den  Katzen gesellen, und jede von diesen besonderen Gattungen wird auch womöglich ein besonderes Gemach einzunehmen suchen.“

 

 

Auch was Swedenborg über den

„G r o ß m e n s c h e n“

sagt: daß der ganze Himmel und die ganze Menschheit vor dem Herrn wie Ein Mensch, machte tiefen Eindruck auf Goethe; wieder und wieder finden wir ihn sagen:

„dass die ganze Menschheit zusammen erst der wahre Mensch ist.“

 

 

Auch in seiner Ehrfurcht vor der

Bibel

Steht Goethe auf festem Boden, wie dieser ihm hauptsächlich durch Swedenborg übermittelt wurde, der den tieferen Sinn der Heiligen Schrift darlegte und ihre Gültigkeit über alle Fragwürdigkeiten des Buchstabens hinweg erklärte.

„Ich für meine Person halte die Bibel lieb und wert, denn fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig“

 

Ja sogar in seiner „Farbenlehre“ finden wir dieses Zeugnis:

„Die Bibel ist nicht nur ein Volksbuch, sondern das Buch der Völker, weil sie die Schicksale eines Volkes zum Symbol aller übrigen aufstellt. Je höher die Jahrhunderte an Bildung steigen, desto mehr wird die Bibel zum Teil als Werkzeug der Erziehung freilich nicht von naseweisen, sondern von wahrhaft weisen Menschen genützt werden.“

 

Und an anderer Stelle bezeugt er:

„Ich bin überzeugt, dass die Bibel immer schöner wird, je mehr man sie versteht.“

 

Zu diesem Verständnis hat natürlich das, was er in den Schriften Swedenborgs über die

Entsprechung

las, über die Entsprechung der natürlichen mit dem Göttlichen, sehr beigetragen. Nach Max Morris (S. 506) hat er sich sogar “Anfang 1773 nach Swedenborgs Vorgang als Bibeldeuter versucht.” Ja seine Dichter- und Künstlerseele erfasste diese Wahrheit so recht im Kern, dass die die Schöpfungen in der Natur um uns solches darstellen, was wir in uns tragen. Zu Eckermann äußerte er sich:

„Es ist nichts außer uns, was nicht zugleich in uns wäre.“

„Wär nicht da Auge sonnenhaft,

Die Sonne könnt’ es nie erblicken;

Läg nicht in uns des Gottes Kraft,

Wie könnt’ uns das Göttliche entzücken?“

 

Wie von Grund aus er die Wahrheit von den Entsprechungen des sichtbar natürlichen mit dem unsichtbaren Geistigen Göttlichen erfasste, das zeigt das wunderbare dichterische Wort am Schluß des „Faust“:

„Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.“

 

 

Manche haben leicht die Vorstellung, Goethe habe es eben doch leicht gehabt,- aus wohlhabendem geachtetem Hause hervorgegangen, mit glänzenden vielseitigen Gaben ausgestattet, die ihm alle Türen und Herzen öffneten, wo immer er hinkam, in der höchsten Gesellschaft, bei Hofe gefeiert und mit den höchsten Ämtern und Würden ausgezeichnet, da sei es leicht, da sei es leicht zu freiem überlegenem Urteil und Menschentum zu gelangen. Gewiss, er hatte es innerlich und äußerlich in vielem leichter als Andere; er brauchte sich nicht anzustrengen, wenn er nicht mochte, und er hat zu Zeiten dem kranken überbürdetem Schiller die ganze Arbeit für die gemeinsam herausgegebenen „Horen“ aufgeladen. Dabei müssen wir aber andererseits doch erkennen, dass er trotz all den Verführungen, welche seine besonders begünstigte Lage enthielt, nicht in Wohlsein und Oberflächlichkeit versandete, wozu die Gefahr so nahe lag, sondern, dass er auch wieder ungeheuer gearbeitet hat. Auch an sich selbst, und das vertiefte auch seine ganze Lebensanschauung mehr und mehr und baute eine feste geklärte Religion in ihm aus, die den Kenner Swedenborgs in vielem verwandt berührt. Gerade seine Reisen in das Schweizerland, das er dreimal besuchte, halfen ihm dazu. Neigte er in jugendlichen Jahren zum Pantheismus, d. h. sich und die Natur mit Gott zu vernämlichen, so gab er angesichts der grandiosen Eisgebirge, wie er schreibt, „gern jede Prätension ans Unendliche auf, da man nicht einmal mit dem Endlichen im Anschauen und Gedanken fertig werden kann.“

Schon auf seiner zweiten Schweizerreise wird dem nun Dreißigjährigen inmitten der Bergriesen klar, dass auch all diese schauerliche Größe unterhalb des Menschen steht, dass der Mensch darüber steht, und er blickt mit großer Ruhe in die gewaltige ihn umgebende Natur.

In der Schweiz und zumal in Zürich ward er auf seinem Weg zur Religion stark gefördert durch seinen Verkehr mit dem von ihm damals verehrten Lavater, dem Pfarrer an der Peterskirche, einem einst ehrfürchtigen Leser und Verehrer Swedenborgs, der auch der erste war, der in Zürich von der Kanzel statt des strengen strafenden Gottes den Gott der Liebe verkündigte. Hier hat ja Goethe sogar an einem Samstag in der Studierstube Lavaters, als dieser sich eines Besuches wegen längere Zeit entfernen musste, dessen halbfertige Predigt gelesen und vollendet und sie dann am Tag nachher in der Peterskirche mit einem Hinweis auf seinen Genius von Lavater vortragen hören. Den Verkehr mit Lavater nannte Goethe selbst „Siegel und oberste Spitze der ganzen Reise“.

 

Goethe liebte in seiner Ausdrucksweise in seinen Werken – wie übrigens auch andere Dichter- den Anklang an die Götter und das Heidentum Griechenlands, was ihm in den Augen vieler zu einem Heiden macht. Uns will dieses Spiel mit dem antiken Heidentum wie eine oberflächliche literarische Spielerei erscheinen, wenn schon es auch eine eine natürliche Rückwirkung auf das bei Vielen enge erstarrte lutherische Kirchenchristentum seiner Zeit sein mochte. Hält man aber dazu die Äußerungen seiner persönlichen Überzeugung, in Gesprächen und Briefen, so wird

seine vertiefte Religion

offenbar. An Plessing schreibt er einmal:

„So viel kann ich Sie versichern, dass ich mitten im Glück in einem anhaltenden Entsagen lebe und täglich bei aller Mühe und Arbeit sehe, dass nicht mein Wille, sondern der Wille einer höheren Macht geschieht, deren Gedanken nicht meine Gedanken sind.“

 

Ja, er hielt die Ehrfurcht vor Gott für eine Vorbedingung wirklichen Menschentums, sagt er doch:

„Eines aber bringt niemand mit auf die Welt, das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten ein Mensch sei: Ehrfurcht.“

 

Und anderwärts:

„Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen.“

 

Auch gesteht er offen:

„Wie wunderlich man auch den Mitmenschen erscheine, wenn man sein Schicksal und den Verlauf der Dinge ganz der Gottheit anheim stellt, so habe ich doch Ratsameres niemals entdeckt.“

 

Auch ihm ist Religion nicht so sehr eine Sache bloßen Glaubens oder  Schwärmens, sondern der Gesinnung und des Lebens.

„Große Gedanken und ein reines Herz, das ist’s, was wir uns von Gott erbitten sollten.“

„Über allen Tugenden steht eins: Das beständige Streben nach oben, das Ringen mit sich selbst, das unersättliche Verlangen nach größerer Reinheit, Weisheit, Güte und Liebe.“

 

Dabei wurzelt seine persönliche Religion trotz allem spielerischen Anklang an die Götter Griechenlands doch fest im

Christentum,

aber eben in dem Christentum, wie es damals Swedenborg darlegte, sagt er doch:

 

„Es ist in den Evangelien der Abglanz einer Hoheit wirksam, die von der Person Christi ausging und die so göttlicher Art ist, wie nur je auf Erden das Göttliche erschien.“

 

Auch er findet wie Swedenborg die Christliche Religion nicht, wie es die damalige und auch die heutige Kirche weitgehend tut, in erster Linie in den Paulinischen Briefen, sondern in den Evangelien offenbart:

„Mag die geistige Kultur immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in immer breiterer Ausdehnung und Tiefe wachsen und der menschliche Geist sich erweitern, wie er will – über die Hoheit und sittliche Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, wird er nicht hinauskommen.“

 

Und wie Swedenborg nachdrücklich betont, dass alle Religion eine Sache des Lebens (und nicht bloß des Glaubens oder äußerer Frömmigkeit) sei,  so sagt auch Goethe:

„Wir werden alle nach und nach aus einem Christenrum des Glaubens und des Wortes zu einem Christentum der Gesinnung und der Tat kommen“

 

Und auch ihm, dem hochfliegenden, freien Geiste ist es klar, dass die Religion sich im Kleinen und Kleinsten bewähren muß, um echt zu sein. So sagt er:

„Möge die Idee des Reinen, die sich bis auf den Bissen erstreckt, den ich in den Mund nehme, immer lichter in mir werden.“

 

Ferner schreibt er in einem Brief an Knobel:

„Es ist ein Artikel meines Glaubens, dass wir durch Standhaftigkeit und Treue in dem gegenwärtigen Zustande ganz allein der höheren Stufe eines folgenden wert und sie zu betreten fähig werden, sei es nun hier zeitlich oder dort ewig.“

 

Auch fragt er:

„Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist.“

 

-                   was ja die durch Swedeborg verkündeten Lehren – zum Unterschied von der damaligen Kirche – zum ersten Erfordernis der tätigen Liebe machen.

 

Daß er auch mit gesellschaftlich niedrig stehenden Menschen liebende Fühlung empfinden konnte, denken sich wohl wenige von dem in der höfischen Szene heimischen. Und doch schreibt er nach einem Besuch von Bergwerken nach einem Zusammensein mit den dortigen Arbeitern:

„Wie sehr ich wieder auf diesem dunklen Zug Liebe zu der Klasse gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber gewiss für Gott die höchste ist.

 

 

Aber auch andere wesentliche Wahrheiten hat Goethe aus Swedenborg erkannt, womit er sich zur Lehre der alten Kirche in direkten Widerspruch setzt. Lehrte die protestantische Kirche zu seiner Zeit noch besonders ausdrücklich , dass der Mensch durch den Glauben allein selig werde, so nahm Goethe mit Freude aus Swedenborg die Lehre auf, dass das Streben zum Guten den Menschen in den Himmel führt. Das bringt er dort in seiner dichterischen Form zum Ausdruck, wo die Engel Faust’s Seele nach seiner Auferstehung emportragen:

 

Gerettet ist das edle Glied

Der Geisterwelt vom Bösen!

Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.

 

Freilich ist es der Herr, der erlöst; jedoch tut er es unter der Mitwirkung von Engeln, weshalb Gott bei der Schöpfung des Menschen, die die Wiedergeburt darstellt, spricht: „Lasset uns Menschen machen.“

 

Überhaupt hat Goethe das

Erlösungswerk

 

des Herrn klar im Sinne der Schriften Swedenborgs begriffen, wie dies wiederum deutlich aus dem Engelsgesang in der Osternacht erhellt:

Christ ist erstanden!

Freude dem Sterblichen,

Den die verderblichen

Schleichenden erblichen

Mängel umwanden.

 

Die Kirche lehrte zu seiner Zeit noch übereinstimmend, dass der Herr die Menschheit stellvertretend durch sein unschuldiges Sterben am Kreuz und nur durch dieses erlöst, d. h. von der seit Adam über sie verhängten Verdammnis befreit habe. Hier aber verkündet der Engelchor, dass der Herr durch sein mit der Auferstehung gekröntes Erlösungswerk von der Herrschaft der erblichen Mängel erlöste, d. h. durch die Überwindung der Höllen von den Sünden und nicht lediglich von der Strafe für die Sünden erlöste.

 

 

Freilich, wenn schon wir aus all diesen Zeugnisse ersehen, dass Goethe die Grundwahrheiten mit dem Verstande im Sinne der Neuen Kirche erkannte, was gewiß auf seine Vertrautheit mit den Schriften Swedenborgs zurückzuführen ist, so scheint er doch seine eigene Einstellung – wenigstens in der Jugend – gekennzeichnet zu haben, wenn er nach dem die Wahrheit so schön verkündenden Ostergesang Faust zweiflerisch sagen lässt:

Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube;

Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind.

Zu jenen Sphären wag’ ich nicht zu streben

Woher die holde Nachricht tönt.

 

Die Tatsache, dass Goethe die Kirche seiner Zeit, ihre Lehren und ihre Frömmigkeit ablehnte und – wo er überhaupt bestimmte Glaubensansichten vertritt- sich in Gegensatz zur offiziellen Kirchenlehre stellte, hat dazu geführt, dass er von den Christen altgläubig-lutherischer Richtung als ungläubiges Weltkind und Heide flammend abgelehnt wird. Wir können diesem Fehlurteil nicht beipflichten.

Er sagte hierüber zu Eckermann:

Ich glaube an Gott und die Natur und an den Sieg des Edlen über das Schlechte; aber das war den frommen Seelen nicht genug;

ich sollte auch glauben, dass Drei Eins seien und Eins Drei.“

 

Wir müssen nur bedenken, dass auch der tief und echt religiöse Pestalozzi, der ganz im Sinne der Neuen Kirche wirkte und ein intimer Freund Lavaters war, von der Kirche ebenfalls als unreligiös und ungläubig verschrieen ward, weil er ebenfalls die Lehre und Religionsauffassung der Kirche seiner Zeit missbilligte. So wird auch Goethe von den Orthodoxen abgelehnt, weil er sie ablehnte. Von manchen Gegnern der Kirche wird nun dieser Gegensatz ausgenützt und verschärft und von gewissen Seiten Goethe überhaupt gegen  Christentum und Kirche auszuspielen versucht und ein eigentlicher Goethekult mit einer deutlichen Spitze gegen das Christentum getrieben. Wie wir schon aus den wenigen oben angeführten Goetheworten ersehen, kann man Goethe ehrlicherweise nicht gegen das Christentum ausspielen. Seine eigene Schwiegertochter berichtet von ihm an Abeken: „Ein Hauptzug meines Schwiegervaters war, dass er ganz neidlos war. Nur reine Freude und Anerkennung empfand er, wo ihm Großartiges entgegentrat; ja die Tränen traten ihm vor Bewunderung in  die Augen. So habe ich ihn auch von Christus sprechen sehen – wollen Sie es Andacht nennen, Verehrung, Anbetung, - ich kann hinzufügen: wenigstens hat wohl niemand der Erfüllung seiner Lehre mehr nachgestrebt.“

 

Nein, Goethe kann man wohl gegen das starre Bekenntnischristentum der Kirche seiner Zeit, nicht aber gegen das Christentum selbst ausspielen: sein Vergehen in den Augen jener bestand eben darin, dass er sich von ihren vernunftwidrigen Lehren und ihrer einseitigen Glaubensbetonung losmachte. Daß er dafür für einen Heiden erklärt wurde, reizte schon den 81-jährigen zu den Worten an Kanzler von Müller (7. April 1830):

„Wer ist den heutzutage noch ein Christ, wie Christus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, obschon ihr mich für einen Heiden haltet.“

 

Das scheint ein starkes Wort, beweist aber eben lediglich, dass Goethe das damalige Kirchenchristentum ablehnte und nach einem Christentum strebte, welches er wohl im Evangelium verkündet, in der Kirche seiner Zeit aber nicht vertreten fand.

 

Wir sind in diesen unseren schlichten Worten des Gedenkens nicht auf Goethe’s Werke als Dichter eingegangen, weil das nicht in unseren Ramen gehört. Wir haben lediglich an Hand einiger seiner eigenen Aussprüche verfolgt, wie er zum Menschen ward, zu dem Menschen, dessen Name heute über die ganze Welt hin Geltung hat, den Napoleon I. zu sehen begehrte, und der dann nach seiner Begegnung mit Goethe sein Urteil so kundgab: „Voila un homme!“- „Das ist einmal ein Mensch!“  Und wir haben gesehen, dass die durch Swedenborg offenbarten inneren Wahrheiten des Wortes wesentlichen Anteil an diesem seinem Menschwerden hatten und dass er auf seine Weise ein Werkzeug des Herrn war, das noch heute den Weg bereiten kann für die Aufnahme von mehr Licht im Sinne des Neuen Zeitalters, wie er selbst sein irdisches Leben schloß mit dem Worten:

„Mehr Licht“

 

Ad. L. Goerwitz